14. März 2017

'Floras Traum von rotem Oleander' von Annette Hennig

Eine weiße Villa, eine adlige Familie und der Traum vom großen Glück.

Im Frühjahr 1939 träumt die 19-jährige Flora Hoffmann von einem besseren Leben. Mit fünf Schwestern in einfachen Verhältnissen aufgewachsen, ist der Alltag der Familie in der ländlichen Idylle der Insel Rügen von Arbeit und Entbehrungen geprägt. Doch Flora sehnt sich nach Reichtum und Macht, eben jener Art von Wohlstand, die sie in ihrer Stellung als Hausmädchen täglich erlebt. Bald schon kennt die junge Frau nur noch ein Ziel. Den Weg dorthin verfolgt sie mit aller Kraft und trifft dabei Entscheidungen, die nicht nur ihr Leben für immer verändern.

Fünfzig Jahre später kehrt Flora Gräfin von Langenberg zum ersten Mal in den kleinen Badeort an der Ostseeküste zurück, an dem alles begann. Seinem letzten Wunsch entsprechend trägt sie ihren verstorbenen Mann in heimatlicher Erde zu Grabe. Noch einmal streift die Gräfin durch die alte Villa, der einst ihre ganze Sehnsucht galt. Einsam und zugleich entschlossen beginnt die fast Siebzigjährige eine Reise in die Vergangenheit, die ihr weit weniger Hoffnung als Schmerzen bereitzuhalten scheint. Doch auch dieses Mal geht sie unbeirrt ihren Weg. Wird Flora letztlich finden was sie längst verloren glaubte?

Gleich lesen: Floras Traum von rotem Oleander (Blütenträume 1)

Leseprobe:
Insel Rügen, Mecklenburg-Vorpommern 1990
Martha Dannert traute ihren Augen nicht. Als sie sich aufrichtete und den schmerzenden Rücken geradebog, erblickte sie die hochgewachsene, schlanke Gestalt.
Seit fast zwanzig Jahren pflegte Martha jetzt die Gräber der Eltern, und bald würde es diesen Ort der Besinnung, des Einhalts und der Erinnerung nicht mehr geben. Die Zeit war abgelaufen, sie hatte die Grabstätten nur für zwanzig Jahre reserviert. Heute Morgen, als die alten Glieder ihr wieder einmal die vielen gelebten Jahre vor Augen gehalten hatten, hatte sie gar nicht herkommen wollen, doch jetzt war sie froh, den Besuch nicht auf den nächsten Tag verschoben zu haben. Auch morgen würden Knie und Rücken schmerzen. Daran änderte sich in ihrem Alter gewiss nichts mehr.
Sie legte die kleine Schaufel, mit der sie das Pflanzloch gegraben hatte, aus der Hand. Die Rose, die noch im Topf neben ihr stand, musste warten. Schützend hielt sie ihre Hand über die Augen, um im Gleißen der Sonne die beiden Trauernden besser erkennen zu können, die in einiger Entfernung an einem offenen Grab standen. Als sie ihren Kopf reckte und ein Stück nach links trat, um einen besseren Blick zu haben, geriet sie ins Straucheln. An der blechernen, mit Wasser gefüllten Gießkanne schürfte sie sich die Wade auf, und im letzten Moment fand sie Halt am Grabstein. Erschrocken stieß sie einen spitzen Schmerzensschrei aus. Sofort presste sie die Hand auf den Mund; die beiden Fremden sollten sie nicht bemerken. Nachdem sie etwas Atem geschöpft und sich von ihrem Schreck erholt hatte, spähte sie wieder angestrengt hinüber. Sie zweifelte noch immer, musterte aufmerksam die ganz in schwarze Seide gekleidete Frau.
Diese aufrechte Haltung, erhaben und distinguiert. Konnte das wirklich möglich sein? Das Haar kurz geschnitten, aber nicht gefärbt. Sein helles Grau bildete einen starken Kontrast zu der Trauerkleidung und unterstrich den vornehm blassen Teint. Das modisch geschnittene Kostüm war von erlesener Eleganz, konnte aber ebenso wenig über die Jahre gelebten Lebens hinwegtäuschen wie die knallrot geschminkten Lippen oder die hohen Pumps, die nicht recht an diesen Ort passen wollten.
Martha blinzelte gegen die Sonne. Sollte sie sich dem Paar nähern? Nein, entschied sie, und ihr Blick streifte flüchtig den Mann, der, auf einen Krückstock gestützt, neben der Dame stand. Sie kannte ihn nicht, hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Aber diese Frau? War sie es wirklich? Vierzig, fünfundvierzig Jahre lag es jetzt zurück, rechnete Martha schnell nach. Und doch, ja, sie wurde immer sicherer …
Die beiden Trauernden standen eng beieinander, jeder in Gedanken versunken, keiner sprach ein Wort. Martha wünschte sich sehnlichst, die Frau möge etwas sagen, nur einen einzigen Satz. Auch nach hundert Jahren noch würde sie diese Stimme unter Tausenden wiedererkennen. Die Stimme, die sie schikaniert und gedemütigt hatte. Wie oft war sie durch ihre Träume gegeistert, vor Hohn triefend und vor Verachtung klirrend. Nur aus Liebe zu den Kindern, die ihr anvertraut worden waren und die sie geliebt hatte wie ihre eigenen, war sie geblieben und hatte sich alles gefallen lassen.
Erst jetzt bemerkte Martha die drei prächtigen Kränze, die neben dem offenen Grab lagen. Suchend schaute sie sich um. War noch jemand anwesend? Sie konnte niemanden ausmachen.
„Kommen Sie, Wilhelm“, hörte sie im selben Moment die Frau sagen und ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken.
Jetzt gab es keinen Zweifel mehr.
Martha schaute den beiden Menschen nach, bis diese den Ausgang des kleinen Friedhofs erreicht hatten. Dann bückte sie sich und pflanzte hastig die Rose an die zuvor ausgesuchte Stelle. Schnell noch ein bisschen Wasser, das musste reichen. Behände, wie man es der alten Frau kaum zutraute, lief sie wenig später durch das Friedhofstor hinaus auf die Straße. Das Blut dröhnte ihr in den Ohren vor Aufregung: Sie ist es, sie ist es! Es rauschte durch ihre Adern, und Martha fröstelte trotz des warmen Sommertages. Ohne dass sie etwas dagegen hätte tun können, trugen ihre Füße sie zu der alten Villa, in die sie vor langer Zeit mit so viel Eifer, Freude und Zuversicht gekommen war, um dann nur Enttäuschung und Gram zu erleben. Jung, unbekümmert und arglos war sie damals gewesen und schnell hatte das Leben sie gelehrt, dass es ungerecht und mitleidlos war.
Als Martha über die kleine Mauer in den Park der Villa schaute, blickten ein Paar stahlgraue, kalte Augen sie aus der Ferne an. An keinem Zucken in dem feingeschnittenen Gesicht, an keiner Träne, die die Wangen benetzt hätte, konnte man ablesen, dass diese Frau Trauer trug. Den schwarzen, edlen Hut streng auf dem kurzen grauen Haar befestigt und einen bitteren Zug um die immer noch schönen Lippen, reckte sie den Kopf noch etwas höher. Dann wandte sie sich ab, als hätte sie Martha nicht erkannt.
„Wilhelm, lassen Sie uns fahren!“, rief sie herrisch dem Herrn entgegen, der im Eingangsportal der Villa stand und sich aufmerksam umschaute.
Und Martha Dannert wusste: Flora von Langenberg hatte sich nicht verändert.

Im Kindle-Shop: Floras Traum von rotem Oleander (Blütenträume 1)

Mehr über und von Annette Hennig auf ihrer Website.

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