16. Juni 2016

'Traubenblut: Ein Bremen-Krimi' von Tanja Litschel

Die Studentin Malena Norden verbringt im Rahmen ihrer Forschungen eine Nacht allein in den Gewölben des Bremer Ratskellers. In den frühen Morgenstunden wird sie leblos aufgefunden. Es scheint, als sei sie buchstäblich vor Schreck gestorben. Die Ursache hierfür bleibt rätselhaft.

Als ihre Zwillingsschwester Tamara daraufhin nach Bremen zurückkehrt, hat die Polizei die Ermittlungen bereits eingestellt. Doch Malenas mysteriöser Tod lässt Tamara keine Ruhe. Sie beschließt, den Fall auf eigene Faust zu lösen. Lange Zeit tappt sie im wahrsten Sinne des Wortes völlig im Dunkeln. Bis sie herausfindet, dass nichts im Leben ihrer Schwester so war, wie es scheint …

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Leseprobe:
Tamara schubste ihr Handy auf dem blank polierten Holztisch herum und kämpfte gegen den unerklärlichen Drang, eine ganz bestimmte Nummer anzurufen. Zwar war es mitten in der Nacht, genau genommen 23:13 Uhr hier in Schottland, also kurz nach Mitternacht in Deutschland. Aber sie glaubte nicht, dass es eine Rolle spielte. Vielmehr hatte sie nicht die geringste Ahnung, wie sie das Gespräch nach so langer Zeit des Schweigens überhaupt beginnen sollte. »Hallo, ich bin’s, wollte nur mal hören, wie’s dir geht«, würde jedenfalls nicht sonderlich glaubhaft rüberkommen. Auch wenn es ziemlich dicht an der Wahrheit kratzte. »Ich hatte einen Albtraum. Du bist in Gefahr. Was auch immer du vorhast, tu´s nicht!«, brachte die Sache schon eher auf den Punkt. Allerdings klänge diese Art von Dramatik wie der dumme Scherz einer Betrunkenen und sie war sich nicht ganz sicher, ob sie nach dem dritten Bier noch überzeugend das Gegenteil behaupten konnte. Zu allem Überfluss erschien wie durch Geisterhand ein Glas mit goldfarbenem Whisky vor ihrer Nase.
»Trink das, du siehst aus, als hättest du es bitter nötig«, sagte Jonathan und setzte sich zu ihr an den Tisch. »Und anschließend rufst du ihn an. Ich bin nämlich nicht länger in der Lage, dich derart leiden zu sehen.«
»Was?« Einen Moment lang wusste Tamara wirklich nicht, wovon er sprach.
»Deinen Lover. Oder Ex. Was weiß denn ich? Es ist ziemlich schwierig, bei dir auf dem Laufenden zu bleiben. Zumindest was die armen Kerle anbelangt. Warum hast du ihm dieses Mal den Laufpass gegeben? Bevorzugt er Bourbon statt Scotch? Oder hört er Musik, die du nicht ausstehen kannst?«
Etwas skeptisch forschte Tamara in seinem wettergegerbten, kantigen Gesicht nach etwas, das ihr bislang entgangen war. Jonathan hatte sie schon häufig bei ihren Recherchen für das New Planet-Magazin begleitet. Tamara schrieb die Texte, er sorgte für brillantes Fotomaterial. Zusammen bildeten sie ein unschlagbares Team. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob mehr daraus entstehen könnte.
»Nun mach schon. Bitte, tu’s für mich«, drängelte er, hob das Telefon vom Tisch auf und hielt es ihr entgegen.
»Es ist nicht so, wie du denkst.« Sie ignorierte seine Geste und sah ihm direkt in die Augen.
»Sondern?«, fragte er mit einem leicht gereizten Unterton.
»Es geht um meine Schwester. Malena. Ich kann einfach nicht aufhören, an sie zu denken.«
»Aha«, entgegnete er nur und lehnte sich zurück. »Ich dachte, du hättest keine Familie mehr.«
»Habe ich auch nicht. Sie sind alle tot. Es gibt nur noch Malena, aber wir haben uns vor langer Zeit zerstritten.«
»Warum wundert mich das nicht?«
»Oh, besten Dank. Fast hätte ich schon geglaubt, du seist auf meiner Seite.« Sie hob ihr Whiskyglas und trank es in einem Zug leer. »Aber was soll’s, ich wollte sowieso gerade gehen.«
»Du meine Güte, seit wann bist du so empfindlich?« Jonathan ergriff ihre Hände und hielt sie fest. »Es tu mir leid, okay? Erzähle mir von deiner Schwester. Wie ist sie so?«
»Sie ist perfekt.« Tamara versuchte ein Lächeln, was nicht so richtig gelingen wollte.
»Niemand ist perfekt.« Er zog die Augenbrauen in die Höhe und betrachtete Tamara, als sähe er sie zum ersten Mal.
»Du kennst sie nicht. Jede Wette, dass du dich auf der Stelle in sie verlieben würdest. So ergeht es nämlich jedem Mann. Und jeder Frau. Malena versteht es, die Menschen zu bezaubern. Sie ist voller Empathie für jedermann, bildschön, klug, gebildet, kreativ, sanft, freundlich. Sie ist einfach zu gut für diese Welt.«
»Blödsinn. Sie kann unmöglich so schön sein wie du.«
»Netter Versuch. Aber ich konnte ihr noch nie das Wasser reichen. Einmal, als wir noch Kinder waren, haben wir einen verletzten Hund am Straßenrand gefunden. Ein Auto hatte ihn angefahren und übel zugerichtet. Der Tierarzt, zu dem wir ihn brachten, räumte ihm eine Überlebenschance von 1:100 ein. Ich konnte den Anblick des halb zerfetzten Körpers nicht ertragen und flehte den Mann unter Tränen an, das Tier von seinem Leiden zu erlösen. Malena schob mich einfach beiseite, drückte mir ein Päckchen Papiertaschentücher in die Hand und versicherte dem Doktor, dass unsere Eltern die Rechnung auf Heller und Pfennig bezahlen würden. Wenn er nur sein Möglichstes täte, den Hund zu retten. Du kannst dir vorstellen, wie die Geschichte weiterging.«
»Das Hündchen wurde wieder gesund und verbrachte noch viele glückliche Jahre im Kreise der Familie Norden.«
»Ganz genau. Ich wollte, dass ihn der Arzt tötet. Malena hat ihm das Leben gerettet. Verstehst du jetzt, was ich meine?«
»Ja, so ungefähr. Aber das ist nicht der Grund, warum du deine Schwester ausgerechnet jetzt anrufen willst.«
»Nein natürlich nicht. Ich habe einfach nur so ein mieses Gefühl. Es hat mich aus heiterem Himmel gepackt und weigert sich, wieder verschwinden. Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll.«
Jonathan nickte bedächtig. »Wenn das so ist, kann ich dir nur einen einzigen guten Rat geben: Schlafe eine Nacht drüber. Morgen früh bei Sonnenschein sieht die Welt schon wieder ganz anders aus. Und wenn dir der Sinn danach steht, kannst du nach dem Frühstück immer noch mit ihr sprechen.«
»Du hast Recht, ich gehöre ins Bett.« Tamara stand auf und hauchte ihm zum Abschied einen Kuss auf die Wange. Schon jetzt stand fest, dass sie Malena auf gar keinen Fall anrufen würde, weder heute Nacht noch morgen früh. Tamara hatte ihrer Vergangenheit vor langer Zeit den Rücken gekehrt um ein eigenes Leben zu führen. Sie gedachte nicht, sich durch einen bloßen dummen Traum aus der Bahn werfen zu lassen.

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