14. Dezember 2015

'Stunde der Rache' von Tim Vogler

Menschen ohne Namen, Ermittler mit dunkler Vergangenheit. Ein Skandal, der bis zum Kanzler reicht und für eine ganze Stadt zum Albtraum wird …

Ein gekreuzigter Politiker und weitere rätselhafte Morde stürzen die Hauptstadt in den Ausnahmezustand. Der Mafiapate entgeht nur knapp einem Sprengstoffanschlag, ein hoher Berater des Kanzlers wird gekreuzigt. Die Ermittler der »Abteilung A« verstehen erst nach und nach, dass die Morde nicht nur in die höchsten Kreise aus Wirtschaft und Politik reichen. Sie bedeuten auch für jeden der drei Hauptermittler eine Reise in das dunkelste Kapitel der eigenen Geschichte …

Mit Illustrationen des italienischen Malers Cosimo Miorelli.

Gleich lesen: Stunde der Rache: Ein Berlin-Metropolis-Thriller

Leseprobe:
Weiße Wände
Im Fokus der Kühlschrank-Sensoren: Staatswohnung für Bedienstete, Normalstadt

Status der Wohnung: Für Personen der Klasse D 13

Besonderheiten: Möbel auf Wunsch entfernt 

Bilder an der Wand: 0

Anzahl der Fitnessgeräte: 9

Perez blieb in der Mitte seines unmöblierten Zimmers stehen. Sie hatte Maxim nach Hause gefahren und, während er im Auto noch in den möglichen Optionen nach einer guten Verabschiedung gesucht hatte, war sie schon aus dem Wagen gestiegen und hatte ihn durch die Scheibe angesehen, als sei er schwer von Begriff.
Nun stand sie in seinem Zimmer, blickte auf die komplett weißen Wände, das Schachbrett aus Holz neben der auf dem Boden liegenden Matratze und dachte an die vage Diagnose, die ihr Rat Siebenstein, der Chef von Berater Brandt, nach dessen überraschenden Tod zugespielt hatte. Verdacht auf schizoide Persönlichkeitsstörung, depressiver Charakter mit autistischer Wahrnehmungsverzerrung oder zumindest eine tiefgreifende Kontaktstörung, hervorgerufen oder verstärkt durch den frühen Tod der Eltern und eine schlimme Jugend. Durch den Verlust der Geschwister und nahezu aller Leute, die er kannte. Durch das Aufwachsen ohne Bezugspersonen, die mit Kompensationsbegabungen ausgefüllte Einsamkeit in einer für ihn völlig ungeeigneten Umgebung. Mit dem alten Schachbrett der Eltern und dem Boxsack als einzigen Begleiter im härtesten Militärinternat des MV.
Sie trat in den Durchgang zum nächsten Zimmer, in dem ein Fitness-Parcours vor der Glaswand aufgebaut war, hinter der die Lichter der Stadt falsche Sterne unter den wolkenverhangenen Himmel hängten.
»Warum keine Bücher, wenn du das so gerne mochtest?«, fragte sie und zeigte auf das Schachbrett.
»Waren verboten«, flüsterte er und war so nervös, dass er bald nicht mehr wusste, ob er das gedacht oder laut ausgesprochen hatte. Er überlegte, was er ihr noch erklären durfte. Was er von sich zeigen konnte, ohne sie zu verschrecken und merkte in seiner Angst nicht, dass sie sich längst entschieden hatte. Langsam kam sie auf ihn zu, strich über seine Brust, maß ihn mit Händen und Augen und zog ihm sein T-Shirt über die Schultern.
Spärliches Licht fiel aus dem Flur auf seinen Körper, dieses lebensfeindliche Relief aus Muskeln. Die Tätowierungen an beiden Armen und an den Rippen. Die Zerbrechlichkeit, mit der er da stand und die Erinnerung an seine Explosivität während der Kämpfe. Das paradoxe Bild eines Mannes, der im Ring zur Bestie wurde und nun komplett erstarrte, weil er nirgendwo seine Traurigkeit verstecken konnte.
Wieder fuhr sie seinen Körper mit den Fingern ab, merkte die Abwehrspannung ebenso wie die Gänsehaut, die ihre Berührungen hervorriefen. Die Zerrissenheit eines Kindes, das in dem Körper eines Mannes steckte und sich fragte, wie sehr es sich zeigen durfte. Wie man sich verhielt, wenn man lieben wollte, aber Liebe niemals gelernt hatte.
Ihre Finger fuhren über die Male an der rechten Körperseite und blieben an dem einen schlimm vernarbten Komplex unterhalb des Herzens stehen.
»Wo bekommt jemand wie du solche Narben her?«, flüsterte sie und er wusste, dass sie keine Antwort erwartete. Obwohl oder weil sie ahnte, dass die Narbe etwas mit den aktuellen Verwicklungen zu tun haben könnte. Weil sie ohnehin etwas anderes von ihm erwartete als solche Antworten und er es ihr geben wollte, obwohl er sich nicht vom Fleck rühren konnte.
Irgendwann löste sie sich von den alten Wunden. Sie legte die Hände auf seine Schultern und ließ sie dort so lange, bis er sie senkte.
»Wer bist du?«, flüsterte sie an seinem Hals und er wusste nicht, was sie meinte. Sah auf die weißen Wände, die Stadt hinter den leeren Zimmern und stöhnte auf, als sie in seinen Schritt griff. Als sie die Frage beiseite stellte, wer er in seiner Welt war, und ihn in ihre holte. Zu sich auf die pochende Weichheit ihrer Brüste. Die süß-feuchte Wärme ihres Schoßes. Die Wildheit ihres Atems, die auch von ihm Lebendigkeit forderte. Antworten, Besitznahme und Neuanfang. Die Bereitschaft, der zu sein, den sie in ihm sah und nicht das, was die Jahre aus ihm gemacht hatten. Der Wille, neu anzufangen, der ihm die Tränen in die Augen trieb, als er unter ihren Bewegungen versank und für einen Moment die Vergangenheit abschüttelte. Sich auf sie rollte und den Atem rasseln ließ. Verwundert die Schweißtropfen auf seinen Armen bemerkte und sie sofort wieder vergaß. Nur noch sie sah. Ihre Augen, die ihn wie Teleskopgreifer festhalten wollten. Die schlanken Arme, die nach hinten auf die Matratze sanken. Zu denen er niedersank, als der Schrei verhallt war. Als es wieder kalt wurde und er sich fragte, wie er bei ihr bleiben konnte – wie er ihr erklären konnte, warum er so leer war.

Im Kindle-Shop: Stunde der Rache: Ein Berlin-Metropolis-Thriller

Mehr über und von Tim Vogler auf seiner Website.

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