10. Februar 2014

'Die Zauberlinie' von Christian Zeitmann

»Das Wagnis der Liebe ist das einzige auf dieser Welt, das sich lohnt.«

Bjarne und Antonia sind wie füreinander geschaffen. Es ist für beide die große Liebe, die ein Leben lang andauern wird. Aber was ist, wenn sich dieses Leben von heute auf morgen dramatisch ändert?

Ein schwerer Schicksalsschlag stellt ihre Liebe auf eine harte Prüfung. Bjarne verunglückt bei einem tragischen Unfall und fällt ins Koma. Kann seine Liebe zu Antonia auch die Grenzen des menschlichen Daseins überwinden?

Eine ganz besondere Liebesgeschichte, die Hoffnung und Trost spendet und zeigt, was Liebe bewirken kann. Mit einem überraschenden Ende, das zu Tränen rührt.

Gleich lesen: Die Zauberlinie

Leseprobe:
Ich erreichte die Giftbude, das Stelzenhaus, und wunderte mich kaum, dass schon die meisten Fahrer und eine Vielzahl von Schaulustigen eingetroffen waren. Die Giftbuden waren die Restaurants und Strandkorbvermietungen in Sankt Peter-Ording, die so charakteristisch für das Erscheinungsbild des Ordinger Strands waren. Ihren Namen hatten die Buden von dem englischen Wort gift, Geschenk - für manchen Besucher oder Urlauber mochte das zunächst befremdlich klingen. Ich hielt Ausschau nach meinem Wattläufer II. Holger hatte sich bereit erklärt, ihn mit seinem Anhänger zum Strand zu transportieren. Und er hatte Wort gehalten. Der Wagen stand zwischen den anderen Seglern, die von einer Gruppe Zuschauer umringt waren. Ich hatte meinen Segelwagen gelb gestrichen und den Namen mit schwarzen Lettern aufgetragen. Es war die selbst gebaute Weiterentwicklung meines ersten Wagens. Die besondere aerodynamische Form war immer wieder ein Blickfang für Kenner und für Neulinge. Mit dem Wattläufer II hatte ich schon einige Rennen gewonnen, aber bei einer Europameisterschaft anzutreten war eine ganz andere Sache.
Ich schaute erneut auf die Uhr. Schlagartig spürte ich die Aufregung wieder in der Magengrube – bis zum Start war es keine Stunde mehr. Andächtig klopfte ich auf den filigranen Kohlefaserrumpf und machte mich auf den Weg zur Anmeldung.
»Bjarne Bendixen«, sagte ich und blickte den Mann an, der in der Giftbude hinter dem schmalen Tisch saß. Sein Finger fuhr eine lange Liste entlang, dann verharrte er, und er machte einen Haken.
»Willkommen!«, sagte der Mann, der ein schmales Gesicht hatte und eine viel zu große Brille trug, mit freundlichem Lächeln und reichte mir ein Merkblatt, das alles Wissenswerte zum Wettkampfablauf enthielt, sowie meine Startnummer. »Du kannst dich dort drüben umziehen. Der erste Lauf startet in fünfundvierzig Minuten.«
Ich nickte und ging in die Umkleidekabine, um mich umzuziehen. Neoprenhose, wasserfeste Schuhe, blaue Windjacke. Vor dem Waschbecken warf ich einen letzten Blick in den Spiegel. Kurze hellbraune Haare, braune Augen und ein breites Kinn mit Grübchen. Mein kleiner Mund versteckte sich ehrfürchtig unter der breiten Nase. Ich betrachtete mich selbst nur als durchschnittlich gut aussehend. Aber es hatte gereicht, um Antonia zu erobern.
Ich ging nach unten und hielt nach meinen Vereinskameraden Ausschau. Martin Classen grinste, als er mich sah. »Du scheinst dich gut zu erholen im Studium«, sagte er und begrüßte mich mit Handschlag. »Ich hatte schon befürchtet, du wärst blass und pickelig geworden vom vielen Lernen.«
»Das überlasse ich den Kommilitonen«, gab ich zurück. Martin hatte nie viel vom Lernen gehalten. Ich kannte ihn bereits seit Schulzeiten, und er hatte immer davon geträumt, dort zu arbeiten, wo er sich am liebsten aufhielt: im Watt. Er machte inzwischen regelmäßige Führungen hindurch und war für die Wartung des Leuchtturms zuständig. Seine Haut besaß einen bronzenen Ton, und es überraschte mich kaum, dass er mit nacktem Oberkörper vor mir stand. Seine Augen waren stahlblau. Kinn und Wangenknochen stachen hervor, wodurch sich sein Gesicht nicht nur bei den Mädchen einprägte. Er war ein Naturbursche durch und durch.
»Wo hast du Toni gelassen? Hat sie endlich einen vernünftigen Kerl gefunden?« Martin schmunzelte herausfordernd.
»Ja hat sie«, erwiderte ich und erblickte hinter Martin die anderen bekannten Gesichter aus dem Club. »Und sie wird bald hier sein, um den Kerl ordentlich anzufeuern.«
»Ich bin froh, dass du hier bist«, gab Martin zu. »Und wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht, wer außer dir den Pott holen sollte.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Wir werden sehen. Komm, ich will den anderen noch Hallo sagen.«
Martin folgte mir, während ich meine Vereinskameraden begrüßte. Sogar mein erster Segellehrer war anwesend. Er hatte mir die Grundlagen des Strandsegelns beigebracht. Ich wechselte eine paar Worte mit ihm, bevor ich Holger begrüßte. Holger war einen Kopf kleiner als ich. Haare besaß er schon lange nicht mehr, und seine Nickelbrille saß leicht schief auf der Nase. »Grüß dich.« Sein Händedruck war kräftig und herzlich.
»Hast einen gut bei mir«, sagte ich.
»Vergiss es«, sagte er. »Ist doch selbstverständlich.« Holger war im Vorstand des YCSPO. Wenn er einem Mitglied irgendwie helfen konnte, tat er das. Aufgrund seiner schlechten Augen fuhr er selbst schon seit zwei Jahren keine Rennen mehr.
»Die Kiste müsste laufen wie geschmiert.« Holger rückte seine Brille zurecht. »Ich habe im Vereinsheim noch mal alles überprüft.«
»Heute Abend gehen wir einen trinken. Alle zusammen.« Ich sehnte mich danach, mit meinen Vereinskameraden mal wieder richtig einen draufzumachen.
Holger klopfte mir auf die Schulter. »Konzentrier dich jetzt erst mal aufs Rennen. Dann sehen wir weiter.«
Das Rennen. Beinahe hätte ich es vor lauter Wiedersehensfreude vergessen. Der Strand um mich herum war mein Revier. Ich kannte jeden Winkel und war schon Hunderte Rennen gefahren. Aber eben noch keine Europameisterschaft. Die Bedingungen waren ganz andere - die Fahrer kamen aus ganz Europa, und es waren einige große Namen dabei. Doch gerade diese versuchte ich gedanklich auszuschalten. Mein Fokus sollte auf der Strecke liegen. Die Qualifikationsläufe waren ein guter Test gewesen, und ich hatte alle mit Bravour bestanden. Doch jetzt wurde es ernst. Die Qualifikation war nicht mehr als ein Warm-up gewesen.
Überall um mich herum flatterten die Banner der Sponsoren, und die Segel der Wagen knallten, wenn eine Windböe sie erfasste. Sonne und Wind hatten die letzten Schleierwolken vertrieben, und der Himmel strahlte in einem satten Blau. Ein Mann mit Sonnenkappe sprach in ein Megafon und gab letzte Hinweise und Erklärungen. Es fiel mir schwer, mich auf seine Worte zu konzentrieren. Ich versuchte ruhig zu werden und mich zu fokussieren. Das Stimmengewirr und das bunte Treiben um mich herum verschwanden im Hintergrund. Nur zwei sanfte Hände, die sich plötzlich von hinten auf meine Augen legten, konnten mich noch aus meiner Konzentration reißen. Es war Antonia. Ihre langen blonden Haare flogen im Wind. Ihr kleiner Schmollmund presste sich ohne Vorwarnung auf den meinen und sie küsste mich leidenschaftlich. Sanft löste ich mich: »Wow, was für eine Begrüßung!«
»Ich dachte schon, ich komme zu spät«, sagte sie. Ihre hellen Augen leuchteten in der Sonne wie zwei Kristalle. Ihre Wangen waren gerötet, und ein seidiger Glanz lag auf ihrer Haut. Ich fand sie in diesem Augenblick so unendlich hübsch, dass ich sie gleich noch einmal küssen musste.
Wir studierten beide Geologie und Mineralogie. Es hatte nicht lange gedauert bis klar wurde, dass mein Interesse erwidert wurde. Von da an waren wir fast jede freie Minute zusammen, und inzwischen weiß ich, dass sie die Frau meines Lebens ist. In ihrer Nähe fühle ich mich geborgen.
Antonia, die von ihren Freunden Toni gerufen wurde, kam aus Flensburg, wo sie mit zwei älteren Brüdern aufgewachsen war. Bei den dortigen Schwimmmeisterschaften holte sie dreimal den Titel über zweihundert Meter Freistil. Das war erstaunlich, denn ihre Statur war nicht die einer typischen Schwimmerin. Aber in ihren dünnen Armen steckten eine Menge Kraft und Ausdauer.
»Du bist aufgeregt«, bemerkte sie. »Ich sehe es dir an.« Sie piekste mich mit dem Zeigefinger neckisch in den Bauch und legte ihre Arme um meinen Nacken. »Du schaffst das! Ganz bestimmt.«
Ich lächelte. »Du solltest Wahrsagerin werden.«
Holger und Martin begrüßten Antonia. Sie waren beide solo, und ich musste mir eingestehen, dass ich Antonia mit Stolz neben mir wahrnahm. »Und ich dachte, du hättest endlich gemerkt, was für ein Versager Bjarne ist«, neckte Martin sofort wieder. Er konnte seine große Klappe einfach nicht halten. Antonia ging nicht darauf ein, sie schmiegte sich an mich und lächelte lediglich vielsagend.
»Wer jeden Tag Wattwürmer streichelt, kann kein Mädchen abbekommen«, gab ich zurück.
»Wir sehen uns nach dem Rennen«, sagte Martin, ohne auf meine Spitze einzugehen und wandte sich ebenfalls zum Gehen. »Hau rein, Alter. Zeig denen, wo das Segel hängt!« Ich zwinkerte ihm zu und nahm Antonias Hand.
Die Fahrer gingen zu ihren Fahrzeugen. Es wurde hektisch. »Ich muss jetzt zu meinem Wagen«, sagte ich. »Von dort drüben hast du mit deinen Freundinnen einen guten Blick auf die Strecke.« Ich deutete auf einen Punkt rechts vom Gifthaus.
»Ich drücke dir die Daumen!« sagte sie, dann küsste sie mich, und ihre Lippen wanderten weiter zu meinem Ohr. »Ich liebe dich!«
Zärtlich küsste ich ihre Stirn. »Ne mohotatse«, hauchte ich. Ich zwinkerte kurz, küsste sie erneut, machte ein paar Schritte und warf ihr noch eine Kusshand zu. Dann ging ich zu meinem Segelwagen.
Das Rennen sollte in zehn Minuten beginnen.

Im Kindle-Shop: Die Zauberlinie

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