31. Januar 2014

'Das Haus an den Gleisen' von Rainer Bauer

Eine Geschichte vom Erwachsenwerden und der ersten Liebe. Sie beschwört die Illusionen unserer Kindheit und ihren Verlust. Deutschland in der Zeit zwischen Kennedy-Attentat und Mondlandung. In Berlin wird ein Student erschossen. Und Fritz geht's auch nicht gut. Bei der Wahl der Fußballmannschaften bleibt er übrig. Am Seil kommt er nicht hoch. Nicht mal den Hof kann er durchqueren aus Angst vor dem Gockel. Er kapiert die Schrittfolge beim Tanzen nicht und stolpert über eigene und fremde Füße. Schuld ist die Welt, weil sie ihm dauernd im Weg steht.

Da begegnet ihm Leo. Sie ist zwölf, so alt wie er. Sie sagt zu ihm, was noch niemand zu ihm gesagt hat: Du kannst es! Ich helfe dir. Leo wird sein Kompass. Sein weißes Kaninchen. Er wird sie nie mehr vergessen. Eines Tages ist sie verschwunden. Er steht vor seiner größten Herausforderung …

Gleich lesen: "Das Haus an den Gleisen" von Rainer Bauer

Leseprobe:
Die Holztreppe ächzte und knarzte, wenn man seinen Fuß darauf setzte. Kam Hermann spätnachts in seinen schweren Stiefeln die gewachsten Stufen herauf, wusste ich genau, wo er war. Ich kannte jeden Laut in diesen Nächten der Angst.
Geht er weiter oder bleibt er stehen?
Die Schritte verstummten.
Jetzt stand er auf dem Treppenabsatz vor unserer verglasten Eingangstür. Ich lauschte seinem schweren Atem, hörte aber keinen Laut. Alles still. Wäre im Treppenhaus kein Licht gewesen, gedämpft durch das geriffelte Glas der Scheibe, hätte ich geglaubt, zu träumen.
Mir fielen die Augen zu.
Minutenlang muss er dort gestanden haben – dann, wie ein Paukenschlag in der nächtlichen Stille, fuhr es aus ihm heraus in diesem herrischen, schnarrenden Ton einer Amtsperson:
„Katzenpisse komm raus! Ich hab mit dir zu reden.“
Zwölf Jahre, fett wie ein Aal, erpicht auf erste Heldentaten, schlich ich geräuschlos zur Schlafzimmertür und linste durch den Spalt in den Flur.
„Nicht, bleib im Bett“, zischte Johanna hinter mir aus ihrer Bettengruft.
„Katzenpisse komm raus!“
Mit dem Licht im Rücken warf er einen übergroßen, schwankenden Schatten, aber ich war nicht beeindruckt: Selbst Ratten warfen große Schatten.
„Komm raus, stell dich! Wir kriegen dich, du Drecksau!“
„Sag nichts“, flüsterte Johanna meinem Vater zu. „Er geht auch wieder weg.“
Doch er ging nicht, sein Tagewerk war nicht getan. Im zweiten Stock öffnete sich die Tür und Hedwig kreischte herunter:
„Hermännle, so lass doch. Komm doch rauf, Hermännle. Ich bitte dich!“
„Halts Maul, Weib. Schaff dich ins Bett“, schrie Hermännle nach oben zu seiner Frau, seine Faust so heftig gegen unsere Türfüllung schmetternd, dass das Glas klirrte. „Bist du kein Mann, du Schlappschwanz? Komm raus, ich hab mit dir zu reden.“
„Hermännle! So hör doch auf, Hermännle!“ Die Stimme immer verzweifelter. Die grün leuchtenden Zeiger des Weckers zeigten Viertel vor zwei.
„He du, Katzenpisse. Liegst du da drin in deinem Bett? Träumst du was Schönes? Ich weiß genau, dass du mich hörst. Ich krieg dich, ich schwör`s dir. Ich krieg dich, du Drecksack, du. Du Drecksack, du dreckiger! Sei dir bloß nicht so sicher. Wir kommen und holen dich ab zum Verhör.“
In Filmen griffen sich die Leute an die Brust, kippten mit dem Gesicht in die Salatschlüssel und waren mausetot. Warum nicht Hermann? Warum ging Wendel nicht raus und warf ihn kopfüber die Treppe hinunter? Ein Unfall.
Er hatte einen sitzen und ist gestürzt. Ich hab’s genau gesehen. Ich kann es bezeugen, Herr Wachtmeister.
Was wollte er erreichen? Eindruck machen? War er hinter Johanna her? Hätte er sie gekannt, wie ich sie kannte, wäre er nicht hinter ihr her gewesen. Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil, einer von Wendelins Sprü- chen. Sprüche, keine Taten. Warum unternahm er nichts?
Ich hielt die Luft an.
Konnte er meine Gedanken lesen? Da draußen, keine drei Meter von meinem Bett, stand eine Amtsperson in grüner Uniform und schweren schwarzen, auf Hochglanz polierten Stiefeln: die Polizei!

Karriere machte Hermann freilich weniger als Gesetzeshüter, sondern mehr auf dem Gebiet der Medizin: Erst bekam er‘s auf die Brust, dann Bluthochdruck, dann einen Hörsturz, einen Herzinfarkt, Diabetes, erblichen Veitstanz oder irgendwas Degeneratives, von dem ich dachte, er hätte es schon immer gehabt. Wendelin, der Nichtraucher und Nichttrinker, ein stiller, in sich gekehrter Mann, war seit fünfundzwanzig Jahren tot.
Und wie geht‘s dem Gesetz?
Den Umständen entsprechend gut. Der ambulante Dienst pudert ihm zweimal am Tag den Arsch und wechselt die Windel.

"Das Haus an den Gleisen" im Kindle-Shop

Mehr über und von Rainer Bauer auf seiner Website.

Labels: , , ,

0 Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Abonnieren Kommentare zum Post [Atom]

<< Startseite