13. Dezember 2013

'Hermines Tür' von Kerstin Michelsen

Roman über das von Verlusten geprägte Schicksal einer Frau, deren Leben zuletzt eine unerwartete Wendung nimmt.

Nach dem tragischen Unfalltod ihrer kleinen Tochter zerbricht Hermines Familie, ihr Mann Wilhelm verschwindet mit dem Sohn Georg und Hermine bleibt allein zurück. Jahrzehnte später schöpft sie neue Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Georg, als sie vom Tod Wilhelms erfährt.

Auf der Suche nach Spuren aus ihrem früheren Leben, die sie zu ihrem Sohn führen könnten, stößt Hermine im Keller ihres Hauses auf eine geheimnisvolle Tür ...

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Leseprobe:
Das Erwachen war mühsam. Der Schlaf, aus dem sie auftauchte, war wie ein Sumpf, düster und undurchdringlich. Der letzte Traum haftete ihr noch bleischwer an, es dauerte einige Minuten, ehe Hermine sich im Jetzt wiederfand.
Sie blinzelte ihre körnig verklebten Wimpern frei. Es war dunkel. Durch die halb geschlossenen Vorhänge drang von irgendwoher ein schwacher Lichtschein in den Raum, so viel konnte sie erkennen. Vielleicht war es der Mond.
Als nächstes spürte sie ihre schmerzenden Zähne. Jeden Tag und jede Nacht in den vergangenen siebenunddreißig Jahren hatte sie ihre Zähne zusammengebissen. Im Schlaf war es besonders schlimm, da mahlten sie unablässig aufeinander, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Morgens schmerzte ihr dann meistens der ganze Kiefer.
Prüfend fuhr sie mit der Zunge an der Innenseite ihrer Zähne entlang. Fast alle waren noch vorhanden, was im Hinblick auf ihr Alter beachtlich war. Seit Jahrzehnten hatte kein Zahnarzt mehr einen Blick in ihren Mund getan. Sie hatte ihre Zähne immer gewissenhaft gepflegt, denn sie hasste dieses pelzige Gefühl am Morgen. Sonst gab sie nicht mehr viel auf ihr Äußeres, wozu auch. Das nächtliche Knirschen hatte jedoch Spuren hinterlassen. Wenn sie jetzt mit der Zunge etwas stärkeren Druck ausübte, spürte sie, wie einzelne Zähne leicht nachgaben.
Womit man sich beschäftigte, wenn man sonst nichts zu tun hatte, kam es ihr in den Sinn, und ihre Zunge erschlaffte im Mund.
Hermine starrte regungslos durch das Halbdunkel an die Decke. Wieder ein Tag, der zu früh begann. Sie hatte es so satt. Jeder Versuch, wieder einzuschlafen, wäre vergebens gewesen. Es war immer das Gleiche. Egal, wie früh sie aufwachte; mit dem Schlafen war es dann vorbei. Vielleicht würde sie später am Tag noch ein Nickerchen halten.
Unbehaglich reckte Hermine den schmerzenden Rücken. Sie konnte nicht mehr liegen; ihr ganzer Körper fühlte sich steif und wie zerschlagen an. Hermines ganzes Dasein war mühselig, die Tage und die Nächte, und manchmal wollte sie einfach nicht mehr. Die Zeit verging quälend langsam und eintönig, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Einmal hatte sie gedacht, dass ihr Leben wie der Aufenthalt in einem kalten, zugigen Wartesaal war; weit entfernt rauschten Züge vorbei, ohne jemals anzuhalten, und sie war die einsame Wartende, die nirgendwo mehr hinreisen würde. Diesen Vergleich fand sie so treffend, dass sie ihn sich einmal hatte notieren wollen, doch dann war ihr bewusst geworden, wie sinnlos das gewesen wäre. Gleichwohl kehrte dieses Bild immer wieder zurück.
Manchmal fragte sie sich, warum sie das alles noch ertrug. Darauf gab es keine eindeutige Antwort. Vielleicht meinte sie, es nicht anders verdient zu haben. Außerdem war Hermine so erzogen worden, dass man sich nicht aus seinem Schicksal und schon gar nicht aus der Verantwortung davonstahl. Sie war eben doch die Tochter ihrer Mutter, in immer mehr Dingen bemerkte sie das, je älter sie wurde. Wenn man jung war, dann dachte man immer, man sei ganz anders als die Eltern, würde alles anders machen, und am Ende fand man sie dann doch in sich selbst wieder und man handelte in vielem, wie sie es getan hatten.
Vielleicht aber war der wahre Grund für Hermines Ausharren, dass irgendwo in der dunklen Trübsal, die sie ganz und gar ausfüllte und die ihr mit dem Blut durch die Adern floss, doch immer noch ein winziger Funken Hoffnung glomm. Sie hätte sich dies niemals eingestanden, denn Hoffnung bedeutete auch die Qual der Ungewissheit, und die hatte sie schon viel zu lange ausgehalten. Nein, irgendwann war sie an einem Punkt angelangt, wo es besser war, nicht mehr zu hoffen. Sie richtete den Blick nicht mehr in die Zukunft, weil es für sie keine mehr gab. Sie konnte nur einen Schritt nach dem anderen tun – und weiter erlaubte sie sich auch nicht, nach vorn zu schauen – was in ihrem Fall hieß, einen Tag nach dem anderen hinter sich zu bringen, bis sie endlich gehen durfte. Endlich schlafen und nie wieder aufwachen.
Hermine seufzte. Es gab ja trotz allem noch kleine Freuden. Zeitvertreib, oder wie man das auch immer nennen wollte. Wenn heute die Sonne schien, könnte sie ein wenig rausgehen. Sie beschäftigte sich gern in dem kleinen Kräuter- und Gemüsegarten. Bisher wuchs nicht viel; es war zu früh im Jahr. Die Frühlingssonne hatte die letzten Tage schon angenehm erwärmt. Der knorrige Forsythienstrauch war bereits gelb gesprenkelt. Doch in den Nächten fror es.
Das kleine Stück Erde, das sie bewirtschaftete, lag unmittelbar neben der rückwärtigen Küchenveranda. Das weitläufige, ehemals aufwendig gepflegte Parkgrundstück war verwildert. Eine Zeitlang hatte sie noch versucht, es einigermaßen in Ordnung zu halten. Wenn Wilhelm und Georg zurückkommen würden, sollte alles aussehen wie immer, hatte sie sich damals gesagt. Vor vielen Jahren war das gewesen. Irgendwann jedoch hatte sie ihre Bemühungen aufgegeben. Allein war es ohnehin nicht zu schaffen, und sie hatte erkannt, dass das Warten vergebens war. Aber irgendwie musste sie sich beschäftigen, wenn sie nicht vollkommen irre werden wollte. Also hatte Hermine sich im ehemaligen Küchengarten ein überschaubares grünes Reich angelegt.

"Hermines Tür" im Kindle-Shop

Mehr über und von Kerstin Michelsen auf ihrer Website.

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