5. Dezember 2011

'Die Euch verfolgen' von Barbara Strohmenger

Ein Familienroman, mit dem die Autorin an ihren Roman "Briefe aus Kensington" anschließt. Nach dem Tod eines Onkels erben die Geschwister Haik und Ani ein Vermögen. Noch bevor sie sich daran gewöhnen und sich über die Verwendung Gedanken machen können, melden sich alte und neue Bekannte, die ein Stück vom Kuchen bekommen wollen. Haik wird außerdem von einem Freund um Hilfe für dessen schwerkranken Neffen gebeten. Er sagt zu, doch ein Foto des Jungen ruft Erinnerungen wach, die er eigentlich vergessen wollte ...

Gleich lesen: Die Euch verfolgen: Roman





Leseprobe:
Sonja goss sich noch eine Tasse Tee ein und sah gedankenverloren durch die Glastür des Esszimmers in den kleinen Garten hinaus. Es war ein diesiger Aprilmorgen und der Nebel hing über dem Rasen, den Haik unbedingt am Wochenende würde mähen müssen, denn die Feuchtigkeit vermischt mit zunehmender Wärme an den Tagen ließen die Natur förmlich explodieren und den Rasen sprießen. Sonja hätte ihn eigentlich auch selbst mähen können, aber ihr Mann bestand darauf, dass das seine Aufgabe sei. Genau genommen musste sie ihm insofern recht geben, als es natürlich gut war, wenn er sich von seiner Bürotätigkeit in der Woche am Samstag mit Arbeit im Freien erholte.
Sonja hatte ihre Arbeit, die ebenfalls fast ausschließlich im Büro stattgefunden hatte, aufgegeben, als im Februar ihre Tochter Siranush das Licht der Welt erblickt hatte. Leicht war ihr das nicht gefallen und sie hatte lange überlegt, ob sie es tun sollte. Von ihrem Gehalt hätte sie sich ohne Weiteres eine Tagesmutter für ihr Kind leisten können, so dass sie nicht gezwungen gewesen wäre, es in eine Einrichtung zu geben. Ihre Kollegen Caroline und Eric hatten eine gute Tagesmutter für ihren gemeinsamen Sohn Dylan, der sechs Monate vor Siranush geboren worden war, und das Arrangement funktionierte glänzend. Sonja war jedoch aufgefallen, dass es vor allem die Tagesmutter war, die die Fortschritte des Kleinen begleitete. Sie war immer die Erste, die mitbekam, wenn er etwas Neues konnte. Nur wenn so etwas zufällig am Wochenende passierte, waren es die Eltern, die ihn bei seinen neu gewonnen Fähigkeiten unterstützen konnten. Es war Sonja bald klar geworden, dass sie das so eigentlich nicht wollte, und dass sie sich deswegen würde entscheiden müssen. Eric und Caroline schienen zufrieden zu sein, so wie es war, aber sie spürte genau, dass dies bei ihr nicht der Fall sein würde. Sie wollte ihr Kind wirklich aufwachsen sehen. Also hatte sie gekündigt und zwei Monate vor Siranushs Geburt aufgehört zu arbeiten. Zu dem Zeitpunkt drehten sich ihre Gedanken schon so sehr um ihr Kind und sie fühlte sich bereits ungewohnt schwerfällig, so dass es ihr, als es soweit war, bei weitem nicht mehr so schwer fiel, ihre Arbeitsstelle aufzugeben, wie zum Zeitpunkt der Entscheidung. Sie war froh, dass sie zuhause bleiben und sich mit der Hilfe ihrer dreifach erfahrenen Schwägerin und Nachbarin Ani auf das Abenteuer des ersten Kindes vorbereiten konnte.
Natürlich war es eine Umstellung gewesen, aber sie hatte nicht das Gefühl, dass ihr Leben jetzt schlechter war als vorher. Was sie und Haik beide gespürt hatten, war das Fehlen ihres Gehalts, aber letztlich bekam er für seine Arbeit bei der Londoner Dependance einer amerikanisch-armenischen Stiftung immer noch genug, um davon leben zu können. Das Leben in der Hauptstadt war einerseits zwar relativ teuer, auf der anderen Seite musste man jedoch zum Beispiel nicht unbedingt ein Auto besitzen. Daher hatten sie bisher auch darauf verzichtet, denn sowohl in die Innenstadt als auch ins Grüne kam man hier ganz leicht und zu fast jeder Tages- und Nachtzeit auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Häufig ging dies sogar schneller, und in die City kam man mit dem Auto ohnehin nur noch mit einer Sondergenehmigung.
Siranush riss sie aus ihren Gedanken. Die Kleine lag in einem weißen Stubenwagen mit rosafarbenem Verdeck, der ein Geschenk von Sonjas Eltern zur Geburt gewesen war und der in einer Ecke im Esszimmer stand. Sonja stand auf und warf einen Blick in den Wagen. Sie sah jedoch sofort, dass kein Anlass zum Handeln bestand. Siranush träumte nur und gab daher leise Geräusche von sich und fuchtelte mit den Ärmchen. Ihre Mutter fragte sich, was in dem kleinen Köpfchen wohl vorgehen mochte. Als die Kleine sich wieder beruhigt hatte wandte Sonja sich ab und machte sich an die tägliche Haushaltsroutine.
Jetzt, nach insgesamt vier Monaten zuhause, war ihr das Ganze so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie anfing, sich zu langweilen. Die Beschäftigung mit Siranush machte ihr Freude, aber ein Säugling schlief nun einmal viel, und Sonja sehnte sich nach ein wenig Kopfarbeit. Haik brachte ihr manchmal Texte aus dem Büro mit nach Hause, die sie überprüfen konnte. Mit dieser Arbeit konnte sie auch einen kleinen Beitrag zur Haushaltskasse leisten, aber darum ging es ihr nicht in erster Linie. Ihr Kopf wollte beschäftigt werden. Sie hatte in der Marketingabteilung einer Firma gearbeitet und war daher abwechslungsreiche und auch kreative Tätigkeiten gewohnt. Etwas Ähnliches hätte sie gerne wieder gemacht, allerdings ohne Siranush dafür verlassen zu müssen. Zumindest solange sie sie stillte kam eine Arbeitsstelle außer Haus für sie nicht in Frage. Was danach sein würde, darüber dachte sie noch nicht nach. Es würde sich ergeben.
Es war Zeit zum Einkaufen. Sie legte Siranush in den Kinderwagen, den sie von Anis drei Kindern übernommen hatte, und machte sich auf den Weg. Es war eines jener leichten Gefährte, mit denen man zur Not auch die öffentlichen Verkehrsmittel der Stadt problemlos nutzen konnte.
Die nächste Einkaufsstraße war die Northfield Avenue. Dort gab es einige kleinere Lebensmittelläden. Sonja kaufte gerne dort ein. Nur ein- bis zweimal im Monat machte sie zusammen mit Ani und deren Auto einen Großeinkauf in einem Supermarkt, während die beiden Ehemänner auf die Kinder aufpassten. Wahlweise war ihre Einkaufspartnerin auch ihre Freundin und frühere Kollegin Melanie, die mit ihrem Mann allerdings im Norden Londons wohnte und daher für ein Treffen erst immer einige Kilometer mit dem Auto zurücklegen musste.


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