3. Februar 2017

'Schneegrenze' von Jan Frederik Loh

Was, wenn dein bester Freund von damals plötzlich auftaucht und dich um einen Gefallen bittet?

Paul ist eigentlich längst bereit, Eva zu heiraten. Für eine Zukunft nach ihren Vorstellungen fehlt ihm aber das Geld. Als seine Liebste mit Freundinnen nach Spanien fliegt, freut er sich auf ein paar ruhige Tage. Doch dann taucht Mesut auf, ein Kumpel aus alten Zeiten. Mesut überredet ihn zu einer Fahrt nach Norden. Bereits kurz nach ihrer Ankunft wird Paul Zeuge eines Raubüberfalls. Er kann sich verstecken und bleibt unbehelligt. Als die Räuber verschwunden sind, bietet sich ihm die Gelegenheit, mit einem einzigen Handgriff an ein kleines Vermögen zu kommen. Er muss bloß dieses Paket in seine Jackentasche stopfen, das die Verbrecher verloren haben. Es war eines von vielen, sie haben es übersehen, haben es nicht auf der Rechnung. Niemand bekäme es mit, selbst Mesut ist nicht in der Nähe. Das Geld würde reichen, um Evas Träume zu erfüllen, aber auch, um damit alles aufs Spiel zu setzen …

Weil er glaubt, dass keine Spur zu ihm führen wird, steckt er das Paket ein, und schon bald ist ihm ein brutaler Gangster auf den Fersen. Während Eva beginnt, unbequeme Fragen zu stellen, wird Paul immer tiefer in den Strudel gezogen, den seine Entscheidung verursacht hat. Eine Entscheidung, die nicht nur sein Leben in Gefahr bringt …

Gleich lesen: Schneegrenze

Leseprobe:
„Ich schaffe das nie“, sage ich.
Eva sitzt in ihrer Vogelposition vor dem Laptop und beantwortet E-Mails aus Ungarn. Sie war als Kind Leistungssportlerin. Alte Ostblockschule. Sie hat geturnt und sich dabei dermaßen die Knochen verbogen, dass sie manchmal unmenschliche Haltungen einnimmt, ohne es zu merken. Gerade sieht sie irgendwie vogelhaft aus. Wahrscheinlich durch den gebogenen Rücken, den vorgestreckten Kopf und die Baumwolldecke, die von ihren Schultern hängt wie ein Paar Flügel.
„Was denn, was schaffst du nicht?“, fragt sie, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden.
„Diese Sätze sagen. Das sind fünfzehn ganze Sätze oder so. Auf Ungarisch.“
„Ich weiß, dass es Ungarisch ist. Was meinst du, wie viele Sätze ich schon auf Deutsch sagen musste?“
„Du kannst aber fast perfekt Deutsch und ich kann fast kein Wort Ungarisch, da ist der Unterschied. Außerdem musst du nicht vor so vielen Leuten sprechen, die dich alle anglotzen.“ Eva antwortet nicht. Aber jetzt sieht sie vom Bildschirm auf, mir direkt in die Augen, und was ich in ihrem Blick lesen kann, genügt: Ich halte Referate an der Uni, auf Deutsch, jeden Monat. Glaub mir, da glotzen mich auch alle an, und ich mache das nur, weill ich bei dir sein will. Dass sie später einmal Psychologie studieren würde, war Eva schon klar, nachdem sie mit zwölf Jahren „ Schuld und Sühne“ von Dostojewski gelesen hatte, allerdings ging sie damals fest davon aus, dass sie die Texte dann in ihrer Muttersprache erforschen würde.
„Bei uns braucht man bloß ja, ich will zu sagen“, erkläre ich. Eva zieht die Augenbrauen nach oben.
„Ja, bei uns eben nicht nur das. Ist eben so. Aber zuerst musst du sowieso meine Hand fragen.“
„Findest du das eigentlich noch romantisch, wenn du mich jeden Tag daran erinnerst?“
„Romantisch hin und her. Ich will auch ein Kind bald. Nicht erst mit dreißig.“
„Ja, ich will auch Kinder, aber deswegen muss ich doch nicht gleich heiraten.“
„Ich aber schon.“
„Warum denn eigentlich?“
„Damit es die richtige Reihenfolge ist.“
„Was?“
„Weil ich will gleiche Rücknamen.“
„Nachnamen.“
„Ja, ich will eine ganz normale Familie sein.“
Manchmal ist es schwer mit Eva. Sie macht so selten Fehler. Nicht, dass sie gar nichts falsch machen würde. Das Essen lässt sie anbrennen, sie läuft gegen Glastüren, geht ohne Schuhe aus der Wohnung und verpasst dauernd Busse. Aber was sie sich ernsthaft vornimmt, das zieht sie durch. Und dann steht man da mit seinen Ängsten, die sie zwar ernst nimmt, die sie lindern und mit ihrer Wärme zum Schmelzen bringen kann, die aber für sie keine Hindernisse wären. Wenn es ihre Ängste wären, würde sie im Stillen kämpfen, das weiß ich, sie würde kein Wort darüber verlieren und es mit sich selbst ausmachen.
„Ich bin eben nicht so hart wie du. Ich hab voll Schiss, mich zu blamieren. Wenn ich da umfalle oder aus der Kirche renne ... Ich bekomme schon Herzrasen, wenn ich auf der Arbeit in so ‘ner blöden Vorstellungsrunde meinen Namen sagen soll. Da setzt bei mir alles aus. Und nach Ungarn kommen dann tausend Leute und ich stehe im Mittelpunkt und alle starren mich an und hören, wie ich Ungarisch spreche. Wenn ich es versaue, dann erinnern sich alle ihr Leben lang nur noch daran, wie ich da rumgestammelt hab in der Kirche. Oder wenn ich anfange zu heulen. Das macht mir eben Angst.“
„Na und, dann hast du Angst. Das ist nämlich dein Problem immer. Du willst keine Angst haben, daher weht das Wind! Kein bisschen Angst willst du haben. Aber das geht gar nicht. Es hat jeder doch Angst. Man muss das nur aushalten ... Was glaubst du, als ich zum ersten Mal sprechen musste an die Uni. Da war ich bestimmt todesweiß und mein Herz ist fast rausgesprungen. Außerdem sind dann in der Kirche nur Leute, die du kennst, die dich mögen und lieben. Da sind ja keine fremden Leute, die kommen und buh schreien, wenn du was falsch sagst.“
„Ich weiß.“
„Du musst mal versuchen, das zu denken: Wir feiern zusammen. Leute begegnen sich, die sich sonst niemals begegnen würden. Und die kommen alle nur, weil sie sich freuen, dass wir füreinander sind. Nicht weil sie lachen wollen, wenn du kein Luft kriegst im Kirche.“
„Und wenn ich keine Luft kriege? Wenn am Ende kein einziges Wort rauskommt?“
„Dann bewegst du nur das Mund.“
Eva steht auf, die Kuscheldecke hängt auf ihren Schultern. Sie geht zum Herd, kratzt mit einem Löffel im Kochtopf herum und leckt Soßenreste davon ab.
„Ich hab schon wieder Hunger“, sagt sie.
„Wollen wir essen gehen? Casa Mia?“, frage ich und bereue es noch im selben Augenblick. Ich muss mir endlich abgewöhnen, so unbedacht Geld auszugeben. Aber Eva strahlt schon. Sie isst wahnsinnig gerne. Am liebsten Fleisch, Schweinefleisch mit viel Fett. Eva sagt Schweinchen dazu. Sie kaut manchmal so geräuschvoll auf Knorpelstücken herum, dass mir schon beim Zusehen schlecht wird. Am Anfang, als sie mich noch nicht so gut kannte, hat sie mal Pörkölt mit Schweinefüßen gemacht.
„Füßchen. Das essen wir immer so in Ungarn. Pörkölt mit Schweinefüßchen“, sagte sie und verstand nicht, warum ich so entsetzt in den Kochtopf starrte.
„Aber nicht, dass du denkst, ich will dir den Antrag machen. Ich hab einfach nur Hunger“, sage ich.
„Von mir aus kann ich auch schnell was kochen.“
„Wenn du der Antrag im Casa Mia gemacht hättest, wäre es auch komisch, finde ich. Das passt nicht richtig.“
„Ja, das passt nicht richtig“, sage ich. Und ich denke: Aber was passt? Verdammt, was passt denn zu uns? Natürlich will ich nicht in einer Pizzeria um ihre Hand anhalten. Aber es würde sich auch nicht richtig anfühlen, wenn ich es in einem schickeren Restaurant tun würde. Wir sind keine schicken Leute. Wir sind ganz normale Leute, mit verkehrssicheren Fahrrädern und Kräutern auf dem Balkon. Wir leben in einer relativ kleinen Wohnung. In einem relativ kleinen Dorf. Von meinem relativ kleinen Gehalt. Das ist überhaupt mein größtes Problem, wenn ich an diesen Antrag denke: Eva will mindestens drei Mal pro Jahr ihre Familie in Ungarn besuchen. Sie sammelt DVDs und sie geht gerne essen und ins Kino. Das ist alles noch drin, solange man zu zweit ist. Die Mieten auf dem Land sind recht günstig und ansonsten ist Eva nicht sehr anspruchsvoll. Ich muss sie sogar manchmal daran erinnern, dass es schön wäre, wenn sie sich mal wieder neue Klamotten kaufen würde.
„Die Unterhosen hattest du auch schon an, als wir uns kennengelernt haben“, hab ich neulich zu ihr gesagt. Aber jetzt will sie heiraten und Kinder bekommen. Ich weiß gar nicht, wie das funktionieren soll. Wie stellt sie sich das vor? Allein so eine Hochzeit kostet mehrere tausend Euro. Wo sollen die herkommen? Ohne Eva davon zu erzählen, habe ich damit angefangen, am Monatsbeginn Geld abzuheben, um es für die Hochzeitsfeier beiseite zu legen. Aber seitdem ich das tue, ist mein Konto meistens schon im Soll, wenn der Monat gerade seine Mitte überschreitet. Wenn ich das jetzt wirklich alles durchziehen will, ist ab sofort Verzicht angesagt. Einfaches Sparen wird da nicht reichen. Und Verzicht bedeutet auch, dass Eva im August nicht nach Ungarn fliegen kann. Sie wird bald anfangen, im Internet nach Flügen zu schauen, und wenn ich ihr nicht rechtzeitig erkläre, dass dieses Jahr kein weiterer Heimatflug drin ist, wird sie buchen. So ist es jedes Jahr. Sie bucht ihre Flüge und das Geld geht von meinem Konto ab. Ich mag das eigentlich sehr gerne: Das ist so ähnlich, wie wenn ein guter Freund an den Kühlschrank geht und sich ein Stück Wurst nimmt, ohne vorher zu fragen. Dann merkt man, dass er sich wirklich wohl fühlt. Und wer will dann schon gerne seinem Kumpel sagen, dass er die Wurst wieder zurücklegen soll ... Aber genau das werde ich tun müssen. Nur geht es bei Eva eben nicht um ein Stück Wurst, sondern um ihre Heimat.

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