24. August 2016

'Der blaue, beinahe wolkenlose Himmel' von Eva-Maria Farohi

Nichts kann das Glück von Helen und Alexander trüben. Sie heiraten, bekommen eine kleine Tochter. Dann schlägt das Schicksal unbarmherzig zu. Die Ehe zerbricht, und Helen und Alexander verlieren den Kontakt zueinander.

Jahre später begegnen sie sich zufällig wieder – auf Mallorca, wo sie schon einmal so unendlich glücklich waren. Sie fühlen sich wie magisch zueinander hingezogen. Doch ist ihre Liebe stark genug, um die Vergangenheit zu überwinden?

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Leseprobe:
Er stieg aus dem weißen Reisebus mit der bunten Aufschrift an den Seiten und blieb kurz stehen.
Alles sah noch genauso aus, wie er es in Erinnerung hatte. Das war inzwischen über zehn Jahre her.
Alexander fuhr sich mit der Hand über die Stirn, wischte schnell über die Augen. Die Sonne blendete ihn. Doch er konnte nichts tun gegen die Macht seiner Gedanken. Damals war es Januar gewesen. Sie hatten nicht viel Geld gehabt, und im Winter gab es günstige Angebote. So waren sie in dem schönen Hotel abgestiegen, das sonst nicht in ihren Budgetrahmen gepasst hätte. Er bückte sich nach seinem Koffer, den ihm der freundliche Busfahrer zuschob, und ging langsam auf den Hoteleingang zu.
War es wirklich eine gute Idee gewesen, gerade heute hierherzukommen? Was wollte er hier?Nichts konnte den Schmerz in seinem Inneren mildern. Niemals würde er vergessen. Mechanisch setzte er einen Fuß vor den anderen.
Die Hotelhalle erschien ihm fremd. Sie wirkte seltsam verändert. Vielleicht hatte man sie renoviert. Vor dem Tresen der Rezeption stellte er sich in die Reihe der Wartenden – dann erhielt er seine Schlüsselkarte und warf einen Blick auf das Etui aus Papier. Nummer sechshundertdreiunddreißig. Warum nur hatte er darum gebeten, ausgerechnet dieses Zimmer zu erhalten?
Wieso tat er sich das an?
Je länger er auf die Nummer starrte, umso schwerer schien die Karte in seiner Hand zu liegen. Damals waren es noch Schlüssel gewesen, fiel ihm ein, während er zum Fahrstuhl ging. In der Mitte des Zimmers stand das Doppelbett. Alles wirkte so unverändert. Nur die Möbel waren neu.
Er öffnete die Balkontür.
Auf diesem Balkon hatten sie jeden Abend gesessen, eng nebeneinander als Schutz gegen die Kälte. Hatten die Sterne am Firmament gezählt, deren Zahl unendlich schien, und dazu dem Rauschen des Meeres gelauscht, ehe sie wieder in das Zimmer zurückgekehrt waren, um sich im Bett aufzuwärmen.
Diesmal war er allein.
Er legte den Koffer auf die Tagesdecke und begann mechanisch auszupacken.Viel hatte er nicht dabei. Den Schlafanzug legte er aufs Bett. Früher hatte er keinen getragen, sondern nackt geschlafen, dachte er. Es war warm im Zimmer. Wozu hatte er ausgerechnet einen Schlafanzug mitgenommen?
Er nahm ihn hoch und steckte ihn in den Koffer zurück.
Dann trat er auf den Balkon hinaus. Vor ihm lag das Meer. Endlos weit erstreckte es sich bis hin zum Horizont. Im Westen versperrte eine Landzunge die Sicht, auf deren Kuppe ein Gebäude stand.
Das Lokal dort fiel ihm wieder ein.
Sie waren mehr als einmal zusammen oben gewesen, hatten in der Sonne gesessen, etwas getrunken und zum Wasser hinabgeschaut, dessen tiefes Dunkelblau mit dem Goldton der Felsen kontrastierte. Es hatte nach Kräutern gerochen. Nach Thymian, nach Rosmarin – und nach Pferden. Die Sonne hatte die Luft angenehm aufgewärmt, und der Himmel über ihnen war blau und beinahe wolkenlos gewölbt. Als wären seither nur wenige Tage vergangen, so präzise erinnerte er sich daran.
Heute aber war der Strand voller Menschen. In langen Reihen standen die strohgedeckten Sonnenschirme, spendeten den zahllosen Liegen Schatten, auf denen es sich Hunderte von Urlaubern gemütlich machten.
Das Wasser war völlig ruhig und glitzerte.
Alexander steckte die Hände in die Taschen seiner Leinenhose, verharrte weiter reglos auf dem Balkon, versunken in die Betrachtung des Meeres.Tief atmete er ein. Registrierte den Geruch. Nach Salzwasser, nach Wärme, nach Strand. Er drehte sich um und ging ins Zimmer zurück. Ohne sich noch weiter aufzuhalten, trat er auf den Gang, fuhr in die Eingangshalle und verließ das Hotel.
Auf der Uferpromenade wehte ihm eine angenehme Brise entgegen, ließ ihn die Schwüle des Zimmers vergessen. Einen kurzen Augenblick nur sah er zu der Landzunge hinüber, ehe er sich in die andere Richtung drehte. Irgendwann während seiner langsamen Wanderung machte er halt, trank einen café con leche, um dann nochmals ein Stück weiterzugehen. Ruckartig blieb er stehen, starrte bewegungslos auf das Schild über der Boutique an der Promenade. Nur ein Namenszug stand über dem breiten Schaufenster: Julia.
Wie in Trance ging er darauf zu. Streckte die Hand nach dem Kleiderständer aus, der vor dem Eingang stand.
„Kann ich Ihnen helfen?“ Die Verkäuferin war jung, hatte braune Locken und ein strahlendes Lächeln. Kurz sah er sie an. Dann schüttelte er den Kopf. Alexander nahm eines der Shirts von der Stange. Es war aus weißer Baumwolle. Das Eidechsen-Motiv in Blau- und Grüntönen nahm beinahe die ganze Vorderseite ein. Silbrige Linien ließen es lebhaft schillern.
M stand auf dem Etikett.
Helen hatte immer Größe M getragen. Obwohl sie gertenschlank war. Aber sie mochte keine engen Shirts. Ohne auf den Preis zu achten, legte er das Shirt auf den Tresen, beobachtete, wie die Verkäuferin es zusammenlegte und in einer dunkelroten Tüte mit dem Aufdruck Boutique Julia verstaute.
Julia. Heute wäre ihr zehnter Geburtstag gewesen.
Ohne noch etwas von seiner Umgebung wahrzunehmen, ging er weiter. Merkte überrascht, dass er in dem kleinen Hafen am anderen Ende der Bucht angelangt war, und setzte sich auf eine der einladenden Bänke, die um eine Gruppe von knorrigen Tamarisken aufgestellt waren. Ob ihr dieses Shirt wohl gefallen hätte – oder wäre es zu groß gewesen? Wie würde sie darin aussehen? Was hätte sie selbst sich von ihm zum Geburtstag gewünscht?
Er saß auf der Bank und dachte an Helen. Seine Frau.
Zum Greifen nahe sah er plötzlich ihr Gesicht vor sich: das weizenblonde Haar, das ihre feinen Gesichtszüge umschmeichelte, die leuchtenden Augen, die ihn immer so anstrahlten, und ihr Lachen. Beinahe vermeinte er, die zarte Berührung ihrer Hände zu spüren, das Parfum zu riechen, während sie sich über ihn beugte. Ihr Parfum. Es war immer dasselbe gewesen – die ganzen Jahre hatte sie es nicht gewechselt. Wo sie jetzt gerade war? Ging es ihr gut? Lebte sie allein oder hatte sie sogar wieder geheiratet? Dachte sie manchmal noch an ihn?
Das Geräusch eines Motors unterbrach seine Gedanken.
Zwischen dem roten und dem grünen Hafenlicht tuckerte ein weißes Fischerboot die Einfahrt entlang.Er sah ihm nach, beobachtete, wie es in Richtung des Hafengebäudes steuerte, langsamer wurde, um schließlich an einem der zahlreichen Anlegeplätze festzumachen.
Helen. Wie sie wohl jetzt aussah?
Hatte sie ihm inzwischen ein wenig vergeben? Oder hasste sie ihn immer noch? Unruhig stand er auf. Er bemerkte, dass bereits einige der Stühle in den kleinen Speiselokalen besetzt waren, die rund um das Hafenbecken zum Essen einluden. Vermutlich gab es auch im Hotel schon Abendessen, dachte er und schlug automatisch den Weg zurück ein.
Alexander verspürte keinen Hunger.
Er wollte nur, dass dieser Tag irgendwie vorüberging. Und mit ihm der Schmerz, der die ganze Zeit schon in seinem Inneren tobte. Die Hotelhalle war mit unzähligen Menschen gefüllt – Stimmengewirr, lautes Lachen –, irgendwoher tönte Musik aus einem Lautsprecher. Ein Kellner mit einem Tablett voller Gläser lief an ihm vorbei. Er beschloss, doch noch in den Speisesaal zu gehen. Vielleicht sollte er zumindest eine Suppe essen.
In diesem Moment sah er sie. Sie sah aus wie immer. Völlig unverändert.
Noch während er sie beobachtete, beugte sie sich über den niedrigen Tisch und nahm einen Prospekt in die Hand. Dabei strich sie sich eine lose Strähne aus dem Gesicht. Die Geste war ihm so unendlich vertraut.
Er erstarrte.
Während sie las, drehte sie sich ein wenig in seine Richtung, so dass er ihr Gesicht genauer sehen konnte. Er machte kehrt und ging zur Rezeption. „Entschuldigen Sie, ich glaube, ich habe gerade eine unserer Kundinnen gesehen. Könnten Sie mir ausnahmsweise ein wenig weiterhelfen? Es wäre mir peinlich, wenn ich eine falsche Person anspreche“, bat er und setzte dabei ein freundliches Lächeln auf.
Die junge Frau betrachtete ihn einen Moment lang, bevor sie ebenfalls lächelte.
Gleich danach ging sie zum Computer. „Wonach soll ich suchen?“, fragte sie und sah ihm tief in die Augen. „Ich glaube, der Name war Wagner“, sagte er. „Helen Wagner.“ Das war ihr Mädchenname gewesen. Vorsichtig drehte er sich ein wenig in Richtung der Halle.
Sie war nicht mehr da.
„Helen Wagner“, sagte die Angestellte. Immer noch lächelte sie. „Ja, sie ist hier. Heute angereist. Sie bewohnt mit Herrn Becker zusammen Zimmer Nummer fünfhundertvierunddreißig. Aber Herr Becker hat noch nicht eingecheckt.“ Er nickte. Versuchte, sich zu beherrschen. Sie war es wirklich.
Er schob einen Schein über den Tresen. Lächelte ständig weiter. „Darf ich Sie auf etwas einladen?“ Die Frau griff nach dem Schein, zog ihn näher zu sich heran. „Gerne“, sagte sie. „Vielen Dank auch. Vielleicht trinken Sie ja einmal ein Glas mit.“
Mühsam bezwang er seine Unruhe. Nickte.
„Ich bin eben erst angekommen. An einem anderen Tag?“ „Sie wissen ja, wo ich bin“, sagte die Rezeptionistin, ehe sie sich einem anderen Gast zuwandte.

Im Kindle-Shop: Der blaue, beinahe wolkenlose Himmel

Mehr über und von Eva-Maria Farohi auf ihrer Website.

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