26. April 2016

'Gestohlene Zukunft' von Harald Schmidt

Täglich gibt es in Deutschland etwa vierzig bekannte Fälle von Kindesmissbrauch. Die Dunkelziffer ist jedoch höher, denn viele Opfer und ihre Angehörigen schweigen, aus Scham, aus Angst. Heilt die Zeit diese Wunden? Kann der Mensch erlittenes Leid vergessen? Tina muss sehr bitter erfahren, was es bedeutet, wenn Gespenster der Vergangenheit lebendig werden. Wohlbehütet aufgewachsen begegnen ihr plötzlich Grausamkeiten, die sie sich nie hätte vorstellen können. Die Gräueltaten eines Sexualtäters, verknüpfen sich unaufhaltsam mit dem Schicksal ihrer Familie.

Ein Thriller, der nicht loslässt. Er nimmt den Leser mit in eine Welt, die direkt neben uns existiert. Eine Welt, mit der viele Menschen selbst Erfahrungen sammeln mussten und es aus unterschiedlichsten Gründen totschweigen. Der Autor möchte mit seiner Geschichte nachdenklich machen und zu Diskussionen anregen. Gibt es hier nur Schwarz und Weiß, nur Gut und Böse? Eine Geschichte, frei erfunden, doch grausam nah an der Realität.

Gleich lesen: Gestohlene Zukunft

Leseprobe:
»Was habe ich dem Tag getan, dass er mich schon so früh bestraft?«, sagte Wilms mit Blick auf das vor ihm auftauchende Chaos. Eigentlich sollte dies ein ruhiger Tag werden, da ihm die beiden letzten Einsätze einen Berg an Überstunden beschert hatten. Allerdings dachte man bei einem Tatort wie diesem nicht über das eigene Wohlbefinden nach. Kindermord ist das Letzte und das Verwerflichste für einen Polizisten.
Einsatzfahrzeuge der Polizei blockierten einen Fahrstreifen Richtung Rellinghausen, der Verkehr bewegte sich im Schneckentempo auf der Frankenstraße. Auch der Dienstwagen des Hauptkommissars fand hier kein Durchkommen. Wilms trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad, schlug dann ein und nahm die Abkürzungen durch die angelegten Randbeete. Das Grünflächenamt wird fluchen, dachte sich Wilms.
Schaulustige bildeten mittlerweile Rudel, ihre Hälse reckten sie in Richtung Wald. Uniformierte Polizisten drängten allzu Neugierige zurück, die nicht einsehen wollten, warum ihnen der Zugang verwehrt wurde. Schließlich war das ihr Wald, der Ort, an dem der sonntägliche Spaziergang stattfinden sollte.
Walter Höfner, der Leiter der Schutzpolizei, führte Wilms zum Tatort. Die wartenden Journalisten überfielen ihn vor der Absperrung sofort mit Fragen. Verärgert schob er sie zur Seite, ohne darauf zu antworten. »Fürchterliche Schmeißfliegen, diese Zeitungsleute. Das macht mich immer wieder aggressiv«, bemerkte er gegenüber dem Kollegen, als sie außer Hörweite waren. »Wer hat den Jungen gefunden?«
»Ein Passant und sein Enkel. Die beiden stehen dort drüben. Sie gehen hier jeden Sonntag spazieren. Der Junge fand den Müllsack, der etwas versteckt hinter dem Distelstrauch dort hinten lag, beim Spielen. Herrn Schnell, so heißt der Mann, kam das nicht ganz geheuer vor, also benachrichtigte er mit dem Handy die Polizei. Er meinte, der Geruch war schon sehr penetrant«, antwortete der Einsatzleiter.
»Danke. Wo steckt denn wieder dieser Trokut?« Wilms sah sich nach seinem Assistenten um. »Ach, Sven, nehmen Sie bitte die Aussage von Herrn Schnell auf. Der hat das Opfer gefunden, besser gesagt, sein Enkel. Aber nehmen Sie ein wenig Rücksicht in Ihrer Wortwahl. Ich meine nur, wegen des Jungen.«
»Was haben Sie immer mit meiner Wortwahl, Chef? Ich beherrsche die deutsche Sprache schon recht lange und kann mich gut verständlich machen«, erwiderte Trokut.
»Das glaube ich Ihnen ja. Doch der Junge muss nicht jede Einzelheit erfahren, das ist noch ein Kind. Verstehen Sie? Ich spreche derweil mit der Spurensuche.«
Ein Gebiet in der Größe eines Fußballfeldes war mit Absperrband gesichert. Ermittler in weißen Schutzanzügen, die Aliens glichen, bewegten sich um einen zentralen Punkt, immer darauf bedacht, keine Spuren zu zertreten. Sie sicherten jeden noch so bedeutungslos erscheinenden Gegenstand in diesem Bereich. Selbst Zigarettenkippen wurden mit Pinzetten aufgehoben und verschwanden in Plastikbeuteln.
Die Szene hatte etwas Unwirkliches. Dichter Laubwald, der lediglich einzelnen Strahlen der Sonne gestattete, den Boden zu erhellen. Dieser Wald durfte seine Natürlichkeit behalten, indem das Unterholz nicht ausgelichtet wurde. Herabgefallene Äste blieben, wo sie die Natur platziert hatte, lediglich der Müll der Besucher wurde regelmäßig entfernt.
Wilms mochte die Spaziergänge durch den Stadtwald. Schon als Kind hatte er immer diesen Weg genommen, wenn er mit Freunden zum Schwimmen an den Baldeneysee wollte. Selbst heute, mit achtundvierzig, wo sein gelichtetes Haupthaar die ersten grauen Strähnen zeigte, nahm er sich immer mal wieder Zeit, um hier abzuschalten.
Wilms zog die Schultern hoch und dachte in diesem Augenblick an Joel, seinen neunjährigen Sohn, den er vor zwei Stunden von der Schule abgeholt und zu Claudia, seiner Exfrau, gebracht hatte. Was wäre, wenn dort sein Kind gelegen hätte? Allein die Vorstellung ließ ihn die Fäuste ballen.
Claudia hatte sich nie richtig mit seinem Beruf abfinden können und sie hatten sich mit den Jahren auseinander gelebt. Der Job hatte nicht nur seine Ehe zerstört, sondern ihm auch diverse Sorgenfalten verpasst. Humor und Lockerheit waren ihm mit den Jahren abhanden gekommen. Das war wohl das Los eines jeden Kriminalbeamten.
Dass er sich gerade die frisch polierten Schuhe verdreckte, war Wilms völlig egal, als er sich dem Tatort näherte. Auch er stülpte sich vor dem Betreten der Sperrzone Plastikschoner über die Schuhe.
»Hi, Hermann. Was hast du für mich?« Wilms konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Gerade musste er sich wieder daran erinnern: Er hatte sich bei ihrer ersten Begegnung vor etwa fünfundzwanzig Jahren darüber amüsiert, dass ausgerechnet ein Rechtsmediziner Dr. Todt hieß.
Dieser erhob sich ächzend aus der knienden Position und sah Wilms an. Nur sein Gesicht war nicht von Schutzfolie verdeckt. Schon lange nicht mehr hatte Wilms diesen sonst so abgebrühten und zu sarkastischen Scherzen neigenden Mediziner so nachdenklich erlebt.
»Ist das mit deinem Meniskusschaden immer noch nicht behoben?« fragte Wilms und half ihm hoch.
»Ach, da ist doch nichts mehr zu machen. Die Schmerzen werden bleiben, Holger. Alles klar bei dir? Wie geht es Claudia und Joel, siehst du die beiden ab und zu?« Dr. Todt strich sich das Laub von den Hosenbeinen. Der Schutzanzug schlotterte geradezu um seinen ausgemergelten Körper. Wer diesen Mann nicht näher kannte, unterschätzte sehr oft seinen ausgeprägten Scharfsinn. Kaum jemand im Dezernat lieferte so exakte Hinweise wie Dr. Todt.
»Doch, doch. Eigentlich verstehe ich mich mit Claudia heute besser als früher. Die Distanz hat uns zu mehr Toleranz verholfen. Mit Joel bin ich oft unterwegs. Er möchte später einmal Polizist werden. Kannst dir sicher vorstellen, wie begeistert Claudia von dem Gedanken ist.« Er fuhr fort, nachdem er mit der Grundreinigung zufrieden war. »Übrigens, das sind genau die Fälle, die ich lieber den Kollegen überlassen würde. Also, zur Sache: männliche Leiche, Alter etwa fünf Jahre, wahrscheinlich erwürgt, tot seit zirka zwei Tagen, unbekleidet und weist im Analbereich stärkere Verletzungen auf. Mehr kann ich dir im Augenblick nicht geben.
Genaueres kann ich erst nach der Autopsie sagen. Ach ja: auf der Zunge des Jungen fanden wir Kratzspuren, so als ob sich eine Hand in seinem Mund befand. Da könnten beim Täter Bisswunden entstanden sein.«
Wilms konnte Hermann verstehen, solche Fälle ließen keinen Beamten kalt. Hier nistete sich trotz aller Abgeklärtheit des langen Berufslebens stets ein Hass gegen den Täter ein. Natürlich hatten sie alle, die hier ermittelten, in vielen Seminaren von Psychologen gehört, dass Pädophile anders zu sehen seien – sie seien krank und könnten diesen Trieb nicht in den Griff bekommen. Doch wer brachte im Angesicht dessen, was hier vor ihnen lag, Mitgefühl für den Verbrecher auf? Verständnis für den Mörder, wenn dieser Junge vielleicht stunden- oder tagelang gelitten hatte, bevor der Täter ihn wie Abfall beseitigte?
Es war den grimmigen Gesichtern der umstehenden Ermittlungsbeamten anzusehen, dass jeder von ihnen alles daran setzen würde, diesen Täter seiner gerechten Strafe zuzuführen. Wilms hatte Mühe, seine Gedanken zu ordnen. Sein Blick hing wie gebannt an diesem schmutzigen Müllsack, unter dessen dünner Oberfläche sich die Konturen des kleinen Körpers abzeichneten. Der Mörder hatte dieses Kind zumindest an einem Stück entsorgt. Wie viele Schmerzen hatte der Kleine erleiden müssen! Wie arglos war er in sein Verderben gelaufen! Kinder waren noch nicht mit dem Misstrauen der Erwachsenen ausgestattet. Sie glaubten noch an das Gute im Menschen.
»Hallo, Holger, ist da jemand zu Hause?« Dr. Todt fasste Wilms am Arm und schüttelte ihn aus seinen trüben Gedanken. »Die Kollegen der Spurensicherung möchten dir was zeigen. Ich fahr in die Pathologie und warte dort auf den Jungen. Wir kriegen das Schwein schon, Holger. Bis dann.« Dr. Todt legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter und verschwand. »Was habt ihr für mich?« fragte Wilms den Gruppenleiter der Spurensicherung. Der hatte seinen Mundschutz nach unten gezogen, sodass Wilms trotz des Schutzanzuges den Kollegen Remmert erkennen konnte. Er hielt einen Gipsabdruck mit einem sehr deutlichen Reifenprofil in der Hand.
»Also, Chef. Ich kann noch nicht sagen, ob diese Spuren tatsächlich vom Täterauto stammen, doch verkehren hier in der Regel nur Fahrzeuge der Forstverwaltung. Und die haben Geländereifen drauf. Das hier ist aber der Sommerreifen eines Pkws, etwa 245er Breite. Ein Auto der Oberklasse. Wir werden den Reifentyp ermitteln, dann haben wir auch schon eine gute Eingrenzung auf den Fahrzeughersteller.«
Wilms wandte sich an seinen Assistenten Tokrut, der mittlerweile mit der Befragung des Augenzeugen fertig war und einige Schritte hinter ihm interessiert zuhörte. Den Schreibblock hielt er in den Händen und machte sich fleißig Notizen. Wilms nahm diese Tatsache wohlwollend auf.
»Sven, kommen Sie mal zu mir! Ich denke, Sie haben jetzt die Aussage des Herrn Schnell? Machen Sie sich bitte daran, die Bewohner der gegenüberliegenden Häuser zu befragen, ob sie in dem Zeitraum Dienstag bis Mittwoch hier zufällig einen verdächtigen Pkw haben entlangfahren sehen. Ein Fahrzeug so aus dem Bereich Mercedes, BMW oder Audi. Ich meine, hier auf dem Hauptweg oder auf dem Parkplatz dort hinten.« Wieder an Remmert gewandt fuhr er fort: »Sind die Untersuchungen an dem Opfer beendet? Dann organisiert bitte den Transport in die Rechtsmedizin. Wir treffen uns alle morgen um neun im Besprechungsraum im Präsidium.«
Wilms sah sich noch einmal um. Nein, hier gab es für ihn im Augenblick nichts mehr zu tun. Die Verabredung mit Torsten und Freddy zum Skat heute Abend konnte er sich trotzdem abschminken. Wenn derartige Fälle auftraten, war das gesamte Präsidium im Ausnahmezustand. Es gab dort viele Väter.
Wilms machte sich auf den Weg zu seinem Fahrzeug. Gedankenverloren bewegte er sich auf dem Hauptweg, als er aus dem Augenwinkel heraus den Schatten auf sich zueilen sah. Schon an seiner übertrieben gestylten Frisur und dem ausgeflippten Outfit erkannte Wilms, dass es nur der Pressemann sein konnte, den er in der Vergangenheit schon öfter wegen der Verbreitung von Halbwahrheiten bei der Blöd-Zeitung in die tiefste Hölle gewünscht hatte. Der Kerl verstand es immer wieder, sich aus unbekannten Quellen vage Informationen zu besorgen. Daraus strickte er sich seine eigene Story.
»Valentin, wie schaffen Sie es immer wieder durch die Absperrung? Ich kann und will Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt nichts sagen, zumal wir derzeit noch keinerlei Spuren verfolgen können. Einzig das: toter Junge, zirka fünf Jahre. Aus. Alles Weitere auch für Sie morgen in der Pressekonferenz. Und jetzt ab die Post! Gehen Sie hinter die Absperrung!«
»Ist dieser Junge vergewaltigt worden? Ist es ein Sexualdelikt?« Valentin ließ hier nicht locker.
»Valentin, Sie sollten die Wattestäbchen nur zum Reinigen der Ohren benutzen und danach wieder entfernen. Schluss, aus, nichts mehr. Alles Weitere kommt morgen. Tschüss.« Wilms setzte den Weg zum Dienstwagen fort und ignorierte den Spinner einfach. Er rief aus dem Wagen mit dem Handy sein Büro an. Die Stimme von Silke Kappel am anderen Ende. »Ja Chef, was gibt´s?«
»Kappel, Sie könnten bitte zwei Dinge für mich tun? Erstens brauche ich für morgen früh um neun Uhr den Besprechungsraum. Ich schätze, etwa fünfunddreißig Mann. Zweitens sehen Sie bitte nach, ob es aktuell vermisste Jungen gibt, die etwa fünf Jahre alt sind. Ach ja, blondes Haar, wenn ich das richtig gesehen habe. Bin in etwa zwanzig Minuten da.«
»Alles klar, Chef, ist so gut wie erledigt. Schreckliche Sache. Mein Sohn ist auch erst acht. Haben wir schon etwas Brauchbares, damit diese Bestie schnell gefasst werden kann? Ich darf gar nicht daran denken, dass hier ein Kindermörder frei herumläuft.« Wilms konnte diese Ängste gut nachvollziehen und schlug mit der Faust auf das Lenkrad.

Im Kindle-Shop: Gestohlene Zukunft

Mehr über und von Harald Schmidt auf seiner Website.

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