10. März 2016

"Die unsichtbare Heldin" von J. Vellguth

Was wäre, wenn du die Fähigkeit hättest, dich unsichtbar zu machen?

Erfolglos bei ihrer Doktorarbeit. In den Augen ihres Vaters eine Niete. Und jetzt soll auch noch das Haus ihrer Eltern zwangsversteigert werden. Anja ist am Boden zerstört und weiß nicht mehr, was sie machen soll – bis ein Schild im Schaufenster eines Teeladens die Lösung all ihrer Probleme verspricht. Aber sind die Dinge tatsächlich so einfach, wie sie scheinen? Und wofür darf sie ihre neuen Fähigkeiten überhaupt einsetzen?

Anja schlittert von einem moralischen Dilemma ins nächste, während sie versucht, ihr Leben in den Griff zu bekommen.

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Leseprobe:
Absichten
Sie wollte unsichtbar werden. Anja starrte in den Badezimmerspiegel und versuchte sich vorzustellen, nicht zu existieren. In ihrer Fantasie huschte die Zahnbürste durch die Luft und eine kleine Schaumwolke schwebte über ihrem schwarzen T‐Shirt mit dem fluffigen, blauen Monster.
Es wäre so genial, wenn sie es tatsächlich schaffen würde, Dinge verschwinden zu lassen. Letzte Nacht hatte sie einen Geistesblitz gehabt, vielleicht endlich der Durchbruch für ihre Doktorarbeit.
Sie spuckte ins Waschbecken, wusch sich das Gesicht und band ihr langes, schwarzes Haar zu einem unordentlichen Knoten.
Natürlich war es nicht immer gut, unsichtbar zu sein. Für ihren Vater war sie das nämlich schon ihr Leben lang gewesen. Natürlich hauptsächlich, weil sie ein Mädchen war. Und weil sie nicht Medizin, sondern lieber Physik studiert hatte.
Sie suchte im Bett nach ihrem Handy und fand es unter dem Kopfkissen.
Ja, sie war für ihn unsichtbar. Vor allem, weil sie in seinen Augen noch nie etwas Richtiges zustande gebracht hatte. Doch mit ein bisschen Glück taugte ihre Idee mehr als die letzten und dieser Zustand würde sich bald ändern. Jumping Jack sprang auf ihre Bettdecke und maunzte. Sein dunkles Fell glänzte weich und einladend im Licht, das durch das Fenster fiel. Anja kraulte kurz seinen Kopf.
»Sorry, keine Schmusestunde heute.«
Er miaute wieder. »Tut mir leid.« Sie ging in die Küche, öffnete eine Dose Katzenfutter und kippte den Inhalt auf eine Untertasse. »Ich war letzte Nacht zu lange auf, ich muss mich beeilen, um in die Uni zu kommen.« Damit stellte sie ihm den Teller vor die Nase und warf die Verpackung ins Waschbecken.
Sie schnappte sich Schlüssel, Handy und Rucksack und ging nach draußen. Während sie die Treppe hinunterlief, setzte sie sich die Kopfhörer auf und klickte durch die verschiedenen Playlists. Heute brauchte sie ihre »Power‐ Liste«. Ganz weit oben fand sie eines ihrer Lieblingslieder, The Power and Fury. Perfekt. Rasende Bässe, jede Menge Kraft, genau richtig, um wach zu werden und zu rennen. Draußen war es jetzt schon warm. Das würde ein heißer Tag werden und ein guter Tag, sie konnte es spüren. Sie ließ sich in den Rhythmus der Musik fallen und lief zur Bahn.
Natürlich gab es keinen freien Sitzplatz. Schwitzende Körper drängten sich aneinander. Sie suchte auf der Liste etwas ruhigere Musik. In Gedanken ging sie noch einmal ihre Berechnungen durch. Das Paper aus China war einfach zu vielversprechend. Mit einer winzigen Anpassung musste es möglich sein, Dinge unsichtbar zu machen. Völlig in Gedanken verpasste sie fast die richtige Station.
Beim Aussteigen sah sie Bob neben dem Papierkorb am Geländer des Bahnsteigs sitzen. Natürlich hatte sie keine Ahnung, ob er wirklich so hieß. Aber sie hatte schon vor langer Zeit das Bedürfnis gehabt, ihm einen Namen zu geben. Und für sie sah der faltige Mann mit den traurigen braunen Augen in seinem fleckigen Trenchcoat eben aus wie Bob.
Er strich sich mit der Hand durch den weißen Rauschebart und zog seine blaue Baseballmütze vom Kopf, als er sie entdeckte. Genau in dem Moment, als sie die Hand zum Gruß hob, fiel ihr auf, dass sie ihr Portemonnaie zu Hause liegengelassen hatte.
So ein Mist.
Sie griff in ihre Taschen. Neben einem gebrauchten Taschentuch, ihrem Wohnungsschlüssel und einem zerknüllten Kassenbon fand sie tatsächlich noch drei kleine Münzen. Bob sah sie erwartungsvoll an.
Er sprach nie. Sie starrte auf das Geld in ihren Fingern. Davon konnte sie sich sowieso kein vernünftiges Mittagessen kaufen. Sie blickte auf und sah, wie er an seiner verschlissenen Mütze herumfummelte. Seine Finger waren schmutzig und die gelblichen Nägel viel zu lang.
Sie seufzte und legte ihm die Münzen in die Hand. Er lächelte sein kleines Weihnachtsmannlächeln, und Anja fragte sich zum hundertsten Mal, warum er hier jeden Tag saß. Was war in seinem Leben so schiefgelaufen, dass das hier die beste Alternative war?
Vielleicht hatte auch er versucht, Dinge unsichtbar zu machen und war kläglich gescheitert?
Nein, so würde sie nicht enden. Sie nickte ihm zu und ging zügig weiter zur Uni. Sie hatte heute Großes zu vollbringen.

Im Kindle-Shop: Die unsichtbare Heldin

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